
Dr. Peter Forster, Oberst/Rgt Kdt aD, Publizist und Buchautor
Eines vorweg: Zum Thema NATO bin ich befangen. Im Jahr 2003 war das Nordkommando des Bündnisses in Sachen Info Op, in der Informationsführung, „ausgeschossen“. Die Einsätze in Afghanistan und Irak banden die Kräfte. Im Frühjahr kamen aus Brunssum zwei hochrangige NATO-Offiziere nach Bassersdorf – mit der Bitte, das Schweizer Info Rgt 1 möge in „ALLIED ACTION 03“ mit 15 Offizieren aushelfen.
Dank eingespielter Abläufe
Bern stimmte zu, und das Regiment stellte im Herbst in Istanbul ein gutes Dutzend Spezialisten aus den Nachrichten-, Radio-, Television- und Presse-Einheiten. Mir fiel das Kommando der Info Op zu, weil wir das Rückgrat dieser Component stellten. Sie bestand aus Fachspezialisten aus 13 NATO-Staaten, die dank eingespielter Abläufe von Anfang an gut kooperierten.
Eine Task Force der NATO umfasst in aller Regel den Stab, die vier grossen Components Heer, Luftwaffe, Marine und Logistik und die kleinen Components Info Op und Spezialkräfte. Der Befehlshaber, der Stabschef und die sechs Kommandanten der Components bildeten den inneren Kreis. Das gab mir während mehreren Wochen in Brunssum und Istanbul Einblick in das Getriebe des erfolgreichsten Bündnisses der Militärgeschichte.
Meine „Lehre“ machte ich gleich am zweiten Morgen. Die NATO arbeitet grundsätzlich mit zwei Ablösungen: von 7 bis 19 und von 19 bis 7 Uhr. Wie in der Schweiz teilten wir unsere Component in die Equipen A und B auf.
Nach der ersten Nacht bedeutete mir der Stabschef: „Bei uns läuft das anders. Das Gros arbeitet am Tag. Es bereitet die Befehlsausgabe des Kommandanten um 15 Uhr vor und beginnt dann mit der Befehlsredaktion. Um 19 Uhr übernimmt die kleine Nachtschicht; sie schliesst die Befehle ab und verteilt sie rechtzeitig. Von Helden, die nicht schlafen, halten wir gar nichts. Unsere Einsätze dauern Jahre. Wir brauchen keine übermüdeten Offiziere, es gilt der Grundsatz, die Kräfte seien zu erhalten.“
Dann tritt der Bündnisfall ein
Am meisten lernte ich in kleinem Kreis an den Rapporten. Ich spürte: Die NATO ist ein Hochleistungsverbund. Alles ist auf den Artikel 5 der Charta ausgerichtet. Wenn eine Nation angegriffen wird, gilt das als Attacke gegen alle. Dann tritt der Bündnisfall ein: Alle sind zum Beistand verpflichtet, legen aber ihren level of ambition selber fest.
Der level of ambition bestimmt die Kampfkraft des Verbandes. Gesetzt der Fall, Lettland würde angegriffen, eilten die baltischen Nachbarn, die Polen und die Skandinavier den Letten sofort zu Hilfe. Ein massives Eingreifen wurde in der „alten“ NATO 2003 – lange vor Trump – auch von Grossbritannien, Kanada und vor allem den USA erwartet. Ein mittlerer level of ambition stand in Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten zur Debatte. Der Anspruch an sich selber sank mit der Distanz zur NATO-Ostfront.

Was heisst das konkret? Im Nordatlantikpakt wird jedes Mitglied gewogen. Was zählt, ist die Qualität der Armeen und, wie gesagt, die politische Bereitschaft, im Bündnisfall zu kämpfen. NATO-Offiziere erkennen rasch, was eine Nation und ihre Streitkräfte wert sind – auch bei „zugewandten Orten“ wie der Schweiz.
Meines Erachtens könnten wir mit unserer Luftwaffe bestehen, zumal wir von 2027 an den F-35 erhalten, den etliche NATO-Armeen fliegen oder fliegen werden. Allerdings lässt sich unsere Flab-Lücke gegen Drohnen und Marschflugkörper nicht verbergen, so günstig der Entscheid für das weitreichende System Patriot auch aufgenommen wird.
Fragezeichen Schweizer Heer
Ein Fragezeichen ist zu unserem Heer zu setzen.
- Ob wir uns mit unserer M-109-Artillerie noch zeigen können, sei dahingestellt. Auch der Entscheid, zum Ersatz lediglich 32 neue Geschütze zu beschaffen, verheisst wenig Achtung.
- Zwei echte mechanisierte Brigaden genügen nicht.
- In der Weiterentwicklung der Armee wurde die Vollausrüstung versprochen. Von den 17 Infanteriebataillonen ist – Stand jetzt, Frühjahr 2025 – nur ein Bruchteil voll ausgerüstet.
- Und so weiter, uns so fort.
Wenn sich die Schweiz der NATO annähern will, dann muss sie am Boden ihre Hausaufgaben machen. Im Heer hat unsere Armee Nachholbedarf, und zwar akut. Gerade vor dem Hintergrund der angestrebten NATO-Kooperation ist es schwer zu verstehen, dass das Parlament vom Zieljahr 2030 abgewichen ist – im Nationalrat mit Stichentscheid des Präsidenten.

Ein Wort dominiert in Gesprächen mit NATO-Offizieren: Blut. Die Währung im Bündnis ist in letzter Instanz der Wille, jedes Mitglied mit Blut zu verteidigen. Nur ist Blut ein Wort, das in unserem VBS tunlichst vermieden wird. In einem Wortschatz, in dem Kriege nur „Konflikte“ sind und Manöver „Militärübungen“, hat Blut nichts zu suchen. Eher gefriert die Hölle zu, als dass die Weisswäscher von Bern der Realität ins Auge sehen, die da lautet: Im Nordatlantikpakt ist jeder nur soviel wert, was er im Kampf zu opfern bereit ist.
Aufruf zur Redlichkeit
Damit wir uns richtig verstehen: Das ist überhaupt kein Plädoyer für einen Schweizer NATO-Beitritt. Es ist nur der Aufruf zur Redlichkeit. Es bringt nichts, die Wirklichkeit schön zu malen. Unser Land, unsere Politik muss das atlantische Bündnis so zur Kenntnis nehmen, wie es ist: ein hartes, neuerdings durch Trump gefährdetes Bündnis, das Europa verteidigt. 1949 schrieb ein Spruch der NATO drei Zwecke zu: Hält die USA in Europa fest, hält die Deutschen nieder, hält die Russen raus. Der erste Zweck wird von Trump in Frage gestellt, der zweite fiel weg und der dritte ist aktueller denn je.
In der Schweiz gehört die bewaffnete Neutralität zu den Pfeilern des Bundesstaates. Sie hat sich bewährt und schliesst einen NATO-Beitritt kategorisch aus.
Ein letztes Fragenbündel steht so weit offen wie ein Scheunentor: Wie gross ist das NATO-Potential, wie verbürgt die Bereitschaft des Paktes, uns im Krieg zu helfen? Wie hoch stünde der Auftrag „Schweiz“ auf der NATO-Prioritätenliste? Hat die NATO im Bündnisfall nicht ganz andere Aufträge zu erfüllen, als der Schweiz unter die Arme zu greifen – ein Land, das der Allianz nicht angehört, nicht angehören kann?