
Bundesrat und Parlament haben das Prinzip der bewaffneten Neutralität zur reinen Finanzfrage erklärt. Damit haben sie es versäumt, diesen schweizerischen Grundsatz strategisch zu erklären und vor allem glaubwürdig abzusichern – mit potenziell fatalen Folgen.
«Wer seine Heimat verteidigen will, muss sie kennen und lieben.» So steht es auf der ersten Seite des Soldatenbuchs, das die Schweizerische Eidgenossenschaft 1958 herausgab. Das Vorwort des 375-seitigen Taschenbuches schrieb die damalige Regierung: «Damit bezeugt der Bundesrat erneut seinen Willen, den Sinn für die Landesverteidigung zu stärken.» Fast 70 Jahre später ist von diesem Willen wenig geblieben. Die Regierung kämpft mit sich selbst, mit den Finanzen, die Landesverteidigung ist zweit- oder gar drittrangig. Wird schon nichts passieren. Die Schweiz wurde bislang ja immer verschont.
Die Armee nach ihrer «Weiterentwicklung»
Der ehemalige SVP-Bundesrat und Verteidigungsminister Ueli Maurer gestand bereits 2010, dass viele Verbände «nur auf dem Papier» existierten. Seine «Weiterentwicklung der Armee» (WEA) wurde 2015 als Fortschritt verkauft – war aber primär ein Sparprogramm. Dabei war das Ziel der Reform eigentlich, die verkleinerte Armee vollständig auszurüsten. Erreicht wurde das nicht.
Trotzdem zog der Bundesrat nach Abschluss der Reform eine positive Bilanz. Die Armee könne ihre Aufgaben erfüllen: Konferenzschutz, Friedensförderung, subsidiäre Einsätze. Die Landesverteidigung stand längst nicht mehr im Fokus. Es sei somit gar nicht nötig, dass «sämtliches Material gleichzeitig allen Truppenkörpern» umfassend und permanent zur Verfügung stehe, schrieb der Bundesrat. Dies sei lediglich eine «Maximalvariante».
Dabei ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 klar: Das reicht nicht mehr. Die Armee soll wieder verteidigungsfähig werden. Das Parlament beschloss dafür ein finanzielles Aufwuchsziel von einem Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) bis 2030, seit kurzem soll es 2032 sein. Doch die Finanzierung bleibt ungewiss.
Insbesondere der Bundesrat will ein ausgeglichenes Budget. Dabei schrieb er nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, die bewaffnete Neutralität sei ein zentrales Merkmal unseres Landes: «Das heisst, die Schweiz ist im Stande und bereit, ihr Territorium zu verteidigen. Mit der Bewaffnung wird der eigene neutrale Status durchgesetzt. Sie trägt so zur Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Schweizer Neutralität bei.»
Im Ausland stösst die Tatsache, dass die Schweiz lediglich ein Prozent des BIP in die Verteidigung stecken will, zunehmend auf Unverständnis. Die Nato strebt 2 Prozent an – einen Wert, der bald steigen dürfte. Die Schweiz profitiert geografisch vom Schutzschirm der Allianz und gilt als sicherheitspolitische Trittbrettfahrerin. Europa rüstet auf, verschuldet sich, die reiche Schweiz in der Mitte bleibt Zuschauerin.
An der Pressekonferenz zu den US-Zöllen wurde Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter von einem Journalisten gefragt, was sie Donald Trump sagen wird, falls er die Schweizer Militärausgaben anspricht. Ihre Antwort: Ein Prozent BIP sei in der Schweiz «wahrscheinlich einiges höher» als in den Nato-Staaten, da unsere Volkswirtschaft stärker sei. Das Verteidigungsbudget werde ausserdem enorm erhöht in den nächsten Jahren: «Wir sprechen über einen zweistelligen Milliardenbetrag.»
Volle Einsatzbereitschaft 2050 – vielleicht
Fakt bleibt: Die Schweizer Armee ist nicht verteidigungsfähig und wird es noch lange nicht sein. Laut der jüngsten Armeebotschaft ist volle Einsatzbereitschaft voraussichtlich 2050 möglich – sofern das Budget bis dahin nicht wieder gekürzt wird.
Militärexperten und die EU-Kommission warnen derweil bereits vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges auf das Baltikum. In den nächsten Jahren, nicht in einem Vierteljahrhundert.
Was bleibt von der bewaffneten Neutralität, wenn die Verteidigungsfähigkeit auf Jahrzehnte hinaus illusorisch ist? Das Prinzip wird unglaubwürdig, der Staat ist im Ernstfall vor allem eines: hilflos. Die Schweiz wäre vollends auf den Goodwill anderer Staaten angewiesen. Doch den verspielt sie gerade – weil sie zu wenig beiträgt, für die eigene und die europäische Sicherheit.
Dies ist brandgefährlich in einer Welt, die zur Machtpolitik zurückgekehrt ist. Grossmächte foutieren sich um das Völkerrecht, kleine Staaten haben das Nachsehen.
Jacques Pitteloud, der ständige Schweizer Vertreter bei der Nato, sagte kürzlich, was offenkundig ist: «Wenn uns ein Aggressor testet, sind wir leider verloren.» Ein ungewöhnlich klares Statement für einen Diplomaten.
Die SVP nutzt die allgemeine Rat- und Hilflosigkeit im Land für ihre Neutralitätsinitiative. Diese will die Neutralität als starres Konstrukt in die Verfassung schreiben mit den Worten «immerwährend und bewaffnet». Dabei waren es vor allem SVP-Bundesräte, die in den letzten Jahrzehnten tiefgreifende Sparreformen umgesetzt haben. Ebenso bleibt die Partei bis heute einen mehrheitsfähigen Finanzierungsvorschlag für eine glaubwürdige Verteidigung schuldig – so wie alle anderen.
Die Initiative verlangt aber noch mehr, nämlich einen isolationistischen Kurs: Jede militärische Zusammenarbeit in Friedenszeiten soll verunmöglicht werden – was die Verteidigungsfähigkeit der ohnehin geschwächten Armee weiter untergraben würde.
Autonome Landesverteidigung: ein Ding der Unmöglichkeit
Völlige Autonomie ist militärisch gar nicht mehr möglich. Waffen haben eine Reichweite, die weit über Staatsgrenzen hinausgeht. Der Wissensaustausch zwischen Armeen ist zentral bei den heutigen komplexen Systemen, besonders für eine Milizarmee, wie sie die Schweiz hat. Nicht einmal Israel, das momentan rund 30 Milliarden Franken pro Jahr – über 6,5 Prozent des BIP – in die Verteidigung steckt, operiert völlig allein.
Und: Eine isolationistische Neutralität widerspricht auch dem Geist der Vereinten Nationen, wo die Schweiz Mitglied ist. Die Uno wurde gegründet, um Frieden und Sicherheit zu wahren. Dass Grossmächte mit Vetorecht im Sicherheitsrat das Völkerrecht untergraben, ist erschreckend. Umso wichtiger ist es, dass jene Länder zusammenarbeiten, die an eine regelbasierte Ordnung glauben. Die Schweiz ist keine Insel, sondern ein Land mitten in Europa.
Selbstverständlich gehört nicht nur die Armee zur Sicherheitsarchitektur der Schweiz. Während diese nun deutlich mehr Mittel erhält, bleiben andere Pfeiler schwach: Polizei, Nachrichtendienst, Zivilschutz. Sie sind nicht gewappnet für ausserordentliche Notfälle. Kürzlich warnte das Zivilschutzkader in der «NZZ am Sonntag»: Dieser könne die Bevölkerung im Kriegsfall kaum schützen. Abhilfe sollte unter anderem ein neues Dienstmodell schaffen – eine Fusion von Zivildienst und Zivilschutz zu einem nationalen Katastrophenschutz. Doch der Bundesrat blockiert den Plan, der von der ehemaligen VBS-Chefin Viola Amherd aufgegleist wurde: zu teuer.
Bis zum Sommer erarbeitet das Staatssekretariat für Sicherheitspolitik eine neue, gesamtheitliche Strategie. Sie soll aufzeigen, wie die einzelnen Pfeiler der inneren Sicherheit besser verknüpft werden können. Ziel laut Bundesrat: «Verwundbarkeit» reduzieren und die «Sicherheit und Abwehrfähigkeit der Schweiz» stärken.
Doch auch hier wird am Ende ein Argument dominieren: das Geld. Das wirkt angesichts der geopolitischen Lage grotesk. Eines der reichsten Länder der Welt, eines mit der tiefsten Staatsverschuldung, geht fahrlässig mit seiner eigenen Sicherheit um.
Sicherheit: das Fundament der Schweizer Wohlfahrt
Die Schweizer Wohlfahrt verdankt sich auch der tiefen Staatsverschuldung – doch ihr Fundament ist ein anderes: Sicherheit. Und eine stabile, regelbasierte Ordnung. Beides ist nicht mehr selbstverständlich, im Gegenteil. Die Schweiz muss sich endlich ernsthaft auf die kommenden, schwierigen Jahre vorbereiten.
Dies kann das Land jedoch nur, wenn klare Signale der Regierung kommen. Der Bundesrat muss die extrem schwierige Sicherheitslage für Europa und somit auch für die Schweiz anerkennen und sie dem Volk darlegen. Dafür braucht es einen klaren Plan und eine Regierung, die diesen überzeugt vertritt.
35 Jahre Friedensdividende lassen sich kaum aus dem ordentlichen Budget bezahlen. Die Bevölkerung muss das wissen. Denn alle Vorschläge für eine raschere Finanzierung allein der Armeeausgaben sind im Bundesrat oder im Parlament gescheitert: Fondslösungen, Kompensationen in anderen Bereichen oder eine temporäre Mehrwertsteuererhöhung. Es ist schlicht kein Kompromiss in Sicht. Doch eine glaubhafte Selbstverteidigung in nützlicher Frist kostet deutlich mehr, als sich das Bundesbern eingestehen mag. Die Politik muss ihre Verantwortung wahrnehmen – oder offen sagen, dass die bewaffnete Neutralität als sicherheitspolitisches Prinzip nur noch auf dem Papier existiert.
Als hätte der Bundesrat 1958 geahnt, welche schwierigen Diskussionen auf die Schweiz zukommen, endet sein Vorwort im Soldatenbuch mit einer Warnung – nicht vor der Zusammenarbeit mit anderen, sondern vor «engstirnigem Nationalismus». Er schreibt: «Wir verteidigen ja mit unserm Vaterlande nicht nur den Grund und Boden der Schweiz und Leib und Leben der Schweizer, sondern Freiheit, Gerechtigkeit und die Achtung vor dem Mitmenschen, also Worte, welche zu den allerhöchsten Gütern der ganzen Menschheit gehören.» Es wäre Zeit, diesen Anspruch ernst zu nehmen – und nach ihm zu handeln.
Quelle: LinkedIn Profil von Selina Berner, Artikel auch auf NZZ